Unsere Polizei

Einsatz der Polizei zur Zerstörung von Kultur- und Naturdenkmalen: Die Verantwortlichen können sich nicht hinter der Rechtslage verstecken!

Liebe Freundinnen und Freunde der Aufklärung und der Vernunft!

Wenn wir dagegen protestieren, dass unser funktions­tüchtiger und kulturhistorisch bedeuten­der Bahnhof mutwillig demoliert wird, dann berufen die Politiker sich auf die Pro­jektförde­rungs­pflicht des Landes, das Baurecht der Bahn und das Ergebnis der Volksabstim­mung. Der Hinweis auf die angebliche Rechtslage hat schon oft dazu herhalten müssen, die Ver­nunft zum Schweigen zu bringen. Das dürfen wir uns nicht so einfach gefal­len lassen.

Die Projektförderungspflicht des Landes geht nicht weiter als die Pflicht der Bahn zur Kooperation. So lange die Bahn sich weigert, ihre Kostenkalkulationen und Risikolisten of­fen zu legen, ist das Land auch nicht verpflichtet, sich auf unkalkulierbare Risiken einzulas­sen. Wenn die Landesregierung gleichwohl das Projekt der Bahn fördert, dann tut sie das nicht, weil sie muss, sondern weil sie will.

Durch das Ergebnis der Volksabstimmung wird die Regierung zu gar nichts verpflichtet. Sie wird nur nicht aufgefordert, Kündigungsrechte geltend zu ma­chen. Die Bevölkerung hat in der Volksabstimmung nicht gesagt, sie wünsche eine Verschlechterung der Verkehrsverbin­dungen, die einen integrierten Zeittakt unmöglich macht; sie hat nicht beschlossen, sie wün­sche keinen barrierefreien Bahnhof und Gleise mit einem Gefälle, das den Lokführern Angst macht; schließlich hat sie sich auf die Zusage der Regierung verlassen, den Kostende­ckel von 4,5 Mrd. Euro einzuhalten, und sie nicht ermächtigt, ihn anzuheben, wie es jetzt bereits ange­kündigt wird. Das Ergebnis der Volksabstimmung zwingt die Regierung also zu nichts. Wenn sie nun der Bahn bei der Umset­zung ihrer Pläne hilft, dann tut sie das nicht, weil sie muss, sondern weil sie will.

Mit Hinweis auf das Baurecht der Bahn soll nun auch die Polizei eingesetzt werden, um die Zerstörung von Kultur- und Naturdenkmalen auch gegen die demonstrierenden Bürgerin­nen und Bürger durchzusetzen.

Die Bäume genießen jetzt vorübergehenden Schutz dank des Juchtenkäfers und der Fleder­mäuse. Die Polizei will sich nicht (wieder) dazu hergeben, rechtswid­rige Aktionen mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen.

Dem Südflügel wird dieses Argument nicht helfen. Da müssten die Polizeiobe­ren und Politi­ker sich schon entschließen, den sich aufdrängenden nächsten Ge­danken zu denken und in die Tat umzusetzen, nämlich: Die Polizei ist auch nicht verpflichtet, sinnlose Aktionen mit Zwangsmaßnahmen durchzuset­zen. Sollte nämlich der Südflügel abgerissen werden, ehe die gesamte Finan­zie­rung gesichert ist und alle Genehmigungen erteilt sind, kann keineswegs ausge­schlos­sen werden, dass sich der Abriss als voreilig und überflüssig erweist. Hier hat es den Anschein, dass die Deutsche Bahn durch den Fortgang des Projekts Fakten schaffen will, die es unmöglich machen oder zumindest erschweren sollen, später noch auszusteigen. Damit könnte sie Druck auf die Genehmi­gungsbehörden ausüben. Auch dazu muss die Po­lizei sich nicht hergeben.

Die Protestaktionen stehen unter dem Schutz des Versammlungsrechts, das von der Polizei nicht nur zu beachten, sondern auch zu schützen ist und auch ge­schützt wird. Den Polizistin­nen und Polizisten, die in diese Auseinandersetzung geschickt werden, gebührt unsere staats­bürgerliche und menschliche Solidarität. Sie sind unsere Polizei. Manchen kann wohl im Einzelfall mangelnde Rück­sicht oder übertriebene Härte vorgeworfen werden; aber für ihren Einsatz als solchen und für die Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden, sind nicht die Poli­zistinnen und Polizisten, sondern deren Vorgesetzte verantwortlich.

Wenn Demonstrationen einen unfriedlichen Verlauf nehmen, können sie aufge­löst werden.

Sollte der friedliche Widerstand so nachhaltig sein, dass die Polizei vor der Ent­scheidung stünde, auch unverhältnismäßig harte Mittel einzusetzen, dann müsste sie eine Abwägung zwischen dem Versammlungsrecht und dem Recht der De­monstranten auf körperliche Unversehrtheit einerseits und dem Baurecht der Bahn andererseits treffen. Die Abwä­gung könnte auch zu dem Ergebnis kom­men, dass der Einsatz abzubrechen wäre.

So weit muss und darf es aber gar nicht kommen. Die Politiker könnten auch entscheiden, das üble Spiel der Bahn gar nicht mitzuspielen.

Die Polizei hat nach dem Polizeigesetz die Aufgabe, „von dem einzelnen und dem Ge­meinwesen Gefahren abzu­wehren, durch die die öffentliche Sicher­heit oder Ordnung be­droht wird, und Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist.“ Dabei hat sie „innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken zur Wahr­nehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erfor­derlich erscheinen.“

Unter öffentlicher Sicherheit im Sinne des Polizeirechts wird die Unver­letz­lich­keit der ob­jektiven Rechtsordnung“ verstanden. Öffentliche Ord­nung ist „die Gesamtheit der unge­schrie­benen Regeln für das Verhal­ten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beach­tung nach den jeweils herrschen­den Anschauun­gen als unerlässliche Voraussetzung eines ge­ordneten staatsbürgerli­chen Zusammenlebens betrachtet wird.“

Wir alle haben das Recht, diese Begriffe mit Sinn und Leben zu füllen. Dann ergibt sich: Öf­fentliche Sicherheit und Ordnung sind nicht gefährdet, wenn die  Bahn an einem mut­willigen Zerstörungswerk gehindert wird. Sie sind gefährdet, wenn ein wesentlicher Teil der Be­völke­rung sich wütend und verzweifelt nur noch ökonomischen Interessen von Großun­ternehmen und Immobilienspeku­lanten sowie dem undurchsichtigen Kalkül politi­scher Parteien ausgelie­fert fühlt und seiner Mitwirkungsrechte beraubt wird, wie es hier der Fall war und noch ist.

Die Polizei kann nicht verpflichtet sein, den Abbruch des Südflügels und das Fällen wei­terer Bäume im Schlosspark gewaltsam gegen den Protest der Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen, solange überhaupt noch nicht feststeht, ob diese Maßnahmen erforder­lich sind. Sie sind es nicht, solange nicht alle Hindernisse, an denen die Reali­sie­rung des Projekts Stgt 21 noch scheitern könnte, beseitigt sind.

Wenn die Polizei gleichwohl für den Abbruch des Südflügels und das Fällen der Bäume eingesetzt wird, dann geschieht das nicht, weil hierzu eine rechtliche Verpflichtung be­stünde, sondern weil die verantwortlichen Poli­tiker das Projekt Stuttgart 21 gegen alle Einwände und Widerstände durchsetzen wollen.

Christoph Strecker, Richter a. D., Mediator